hinter den Fronten

in meinem letzten Beitrag habe ich dargelegt, wie man sich fühlen könnte, wenn man auf dem sehr steinigen Weg von einer Autostadt zu einer lebenswerteren Stadt beinahe täglich auf alle möglichen Widerstände stößt. Und bevor in den Begriff „steiniger Weg“ wieder zuviel interpretiert wird: hier ist lediglich das Stilmittel der Metapher gewählt worden; steinige Wege gibt es in Stuttgart höchstens als Radwege.
Und heute früh ist dieser Beitrag offenbar irgendwie bei der Stadt Stuttgart angekommen. Auf diversen Wegen wurde mir mitgeteilt, dass der Sprecher der Stadt Stuttgart mich zitiert hat und versucht, das nun etwas anders darzustellen.

Gegenrede von Matis zu meinem Beitrag
Screenshot von twitter

Vielleicht vorweg: Deutsch ist zwar meine Muttersprache, allerdings wars das dann schon. Ich bin Diplom-Ingenieur und habe weder ein Deutsch-Abitur noch eine Ausbildung in Kommunikationswissenschaften, o.ä. Dennoch interessiere ich mich etwas für Sprache und viele meiner Worte sind tatsächlich absichtlich so gewählt, ohne dass ich jedes einzelen auf die Goldwaage lege (die ich auch gar nicht habe).
Auch die Strategie, sich von einem privaten Account in eine öffentliche Diskussion einzuschalten oder sie zu starten, stelle ich immer wieder mal fest. Das passiert nicht nur hier bei der Stadt Stuttgart, sondern so arbeitet zum Beispiel auch das Social Media Team von Daimler. Dort werden alle unverfänglichen Aussagen über die offiziellen Firmenaccounts getätigt und wenn es dann mal ins Konkrete geht oder eine Aussage getätigt wird, die nicht ganz der Wahrheit entspricht oder nicht 100% konform mit den Firmen-Werten ist, schaltet sich der „Head of Digital Transformation“ privat ein, diskutiert mit und erweckt den Eindruck, als ob er für die Firma spreche, obwohl er in seinem Profil explizit stehen hat „Views are my own. Always“.

Der erste Punkt der Kritik: man müsse sich ja gar nicht engagieren.
Keine Ahnung, was das für eine Aussage sein soll. Von allen Seiten hört man ständig immer wieder, dass (ehrenamtliches) Engagement gut sei und einen großen Vorteil für die Geselllschaft bringt.
Oder es ist nur eine Anspielung auf meinen Slogan „Niemand muss Auto fahren“? Ich glaube zwar nicht, dass ich von der Stadt soweit beobachtet werde, dass sie diesen Slogan kennen oder mir zuordnen könnte – aber wer weiß. Wäre dann aber auch schlecht gemacht.
Letzendlich habe ich die Erfahrung von buchstäblich tausenden Menschen, mit denen ich während der Unterschriftensammelphase des Radentscheid Stuttgart gesprochen habe und die sich fast ausschließlich für unser Engagement bedankt haben und es gut finden, dass wir das machen. Aber wenn jemand auf der „anderen Seite“ dieses Engagements steht, wie eben hier die Stadt Stuttgart, dann ist diese Aussage aus ihrer Sicht vielleicht wieder etwas verständlich.

Der zweite Punkt: ein toter Riese am Ende des Kampfes, als (rhetorische?) Frage.
Auch hier vielleicht wieder eine Anspielung auf den Hashtag #DavidgegenGoliath, den ich verwendet habe. Ja, twitter bietet nur eine begrenzte Zahl von Zeichen an und von diesen Tweet-Threads mit bis zu zig Tweets in Reihe, um einen Punkt klar zu machen, halte ich nicht viel; dafür gibt es, auch 20 Jahre nach deren Entstehung, schließlich immer noch Blogs (sie baden gerade ihre Hände drin[hihi, toller Link dort unter 2.]).
Ich denke, dass ich in meinem Beitrag ganz gut dargelegt habe, dass die ca. 100 Leute, die sich damals für den Radentscheid engagiert haben, durchaus in einer eklatanten Unterzahl sind, wenn man die Politik, die Verwaltung und das lokale Medien-Monopol entgegen ihren jahrzehntelang gelebten Überzeugungen darüber informieren will, was in anderen Städten oder Ländern schon längst an der Tagesordnung ist. Um dies besser zu beschreiben, habe ich mal das digitale Projekt 100 Städte angefangen, welches aufzeigt, dass es weltweit keine einzige Stadt gibt, die ihre Probleme mit dem MIV gelöst hat. All diese Städte setzen auf Maßnahmen für den Radverkehr, für den Fußverkehr, für lebenswerte Städte und wollen den Autoverkehr somit (drastisch) reduzieren, zum Teil komplett entfernen.
Wenn Stuttgart sich dagegen verschließt, wird es bestimmt eines Tages als „toter Riese“ (oder Dinosaurier) enden, oftmals spricht man in dem Zusammenhang von „Detroit 2.0“. Wie die Zukunft wirklich wird, kann natürlich niemand voraussagen. Aber wir können auf die Wissenschaft hören, auf Studien, auf Beispiele aus anderen Städten und ihre Erfahrungen damit. Diese „100 Städte“ sind natürlich noch lange nicht vollständig, ich habe noch viele, viele weitere Beispiele im Hinterkopf, komme aktuell aber nicht dazu, mich hier weiter zu engagieren. Es hat aktuell aber schon einen Status erreicht, der mehr als deutlich macht, dass Städte auf allen Kontinenten das Kapitel „autogerechte Stadt“ abschließen und in eine andere, bessere Zukunft abgebogen sind. Ich habe bisher noch kein halbwegs realistisches Szenario für ein blühendes Stuttgart gesehen, das ohne die Automobilbranche, wie wir sie heute kennen, auskommt.

Zum dritten Punkt, dass es Fronten im Krieg gibt.
Klar. Fronten gibt es aber auch bei Häusern, bei Küchen oder der Meteorologie; nachzulesen beim Duden. Ansonsten ist es ein durchaus übliches Stilmittel in der täglichen Kommunikation, man findet auch 44 Treffer zu „Front“ auf stuttgart.de. Jeder versteht halt das, was er verstehen will. Mehr gibt es hierzu auch gar nicht zu sagen.

Dann zum letzten Punkt: es wäre eine „Falschbehauptung“, wenn ich von Boykott spreche.
Ich sehe es ja eher so, dass eine Aussage auf meiner privaten Webseite keine „Falschbehauptung“ ist, sondern eher eine „Meinung“ und habe auch dargelegt, wie ich dazu komme. Im Beitrag rede ich davon, dass „die Verwaltung der Stadt Stuttgart immer wieder Beschlüsse des Gemeinderates ignoriert oder gar aktiv boykottiert“.
Dann führe ich das eben nochmal mit ein paar weiteren Fakten aus und jede:r Leser:in kann sich sein eigenes Bild davon machen.
2009 hat die Stadt Stuttgart das Verkehrsentwicklungskonzept 2030 erstellt, das gibt es unter diesem Link auch als 32MB-PDF mit 139 Seiten zum Download. Leute, die sich mit dem Thema „Mobilität in Stuttgart“ auseinandersetzen, werden es vermutlich kennen. Allen anderen kann ich es nur empfehlen, weil da grundsätzlich gute Dinge drin stehen (die nur so leider nicht gelebt werden). Es ist offenbar unter der Antragsnummer 590/2010 behandelt worden, ist darunter aber bei der Suchmaschine der Stadt nicht zu finden. Dieses Verkehrsentwicklungskonzept wurde auf jeden Fall von einer Mehrheit des Stuttgarter Gemeinderats beschlossen. Nach meinem Verständnis ist der Gemeinderat das höchste, demokratisch gewählte Organ der Stadt – entsprechend wichtig sind seine Beschlüsse.
Da ich mich primär beim Radverkehr auskenne, hier mal schnell zwei Beispiele:
Es gibt ein Gesamtkonzept zum Thema Radverkehr.Gesamtstrategie Radverkehr laut VEK

Ganz oben, wohl eher zufällig, das Thema Fahrradparken. Dazu habe ich auch vor kurzem meine Meinung geäußert. Hierbei kann ich mir tatsächlich mit viel Optimismus vorstellen, dass es aufgrund von öffentlichem Druck tatsächlich bis 2030 noch halbwegs zufriendenstellend gelöst werden könnte. Warum das Thema allerdings die letzten zehn Jahre auf Eis lag, bleibt verwunderlich. Ein Hauptradroutennetz ist Stand heute noch ein großes Wunschdenken. Es gibt nicht mal eine einzige vernünftige Hauptradroute (HRR) und die Stadt streitet seit Jahren um die HRR2. Bei der Geschwindigkeit wird in den nächsten zehn Jahren sicherlich kein Netz entstehen. Ebenso sind keinerlei Arbeiten an Stadtteilnetzen sichtbar. Ich weiß aktuell lediglich vom Stuttgarter Westen, dass es dort 215m Radwege gibt, und das bei einem Stadtteil mit über 52.000 Einwohnern. Im Osten haben wir nach den zwei Unfällen auf der Talstraße recherchiert und 108m Radwege gefunden. Eine Verkehrssicherheitsarbeit/Öffentlichkeitsabeit und Kommunikation hätte man auch schon am ersten Tag nach dem Beschluss des VEK starten und bis heute laufen lassen können. Stattdessen wurde dem Radentscheid versprochen, dass noch im Jahr 2019 ganz sicher eine Kampagne zu 1,5m Überholabstand durchgeführt wird. Wenn man heute, im Januar 2020 mal draußen auf der Straße fragt, ob jemand etwas davon mitbekommen hat, wird es wohl ernüchternd ausfallen. Service rund um’s Rad – was soll man sich darunter vorstellen? Die eine Reparatursäule, die die Stadt am ersten #Radvent in der Eberhardstraße eröffnet hat? Sorry – aber bei dem Thema ist die Zivilgesellschaft auch schon viel weiter. Der ADFC hat in Zuffenhausen eine solche Säule aufgebaut (was offenbar über 300 eMails mit der Stadt benötigte, bis man sie trotz diesem VEK davon überzeugen konnte, dass man sowas wirklich machen darf), auch die Stadtlücken haben unter dem Österreichischen Platz bereits eine solche Reparatursäule aufgebaut. Dazu kommen noch diverse „offenen Werkstätten“ (z.B. im Hobbyhimmel, im Umweltzentrum von ADFC, im Keller5, etc.). Die Verknüpfung zum ÖPNV ist durchaus gut. Allerdings ist mir nicht bekannt, ob es an diesem VEK lag, oder ob es vorher schon so gelöst war. Falls hier jemand mehr weiß, höre ich mir das gerne an. Zu Qualitätssicherung ist es schwierig, etwas zu sagen. Aber die Radwege in Stuttgart sind durchgehend schlechter als die Straßen und werden oft als Abstellflächen für Verkehrsschilder, Mülltonnen und Parkplätze verwendet. Die Fahrrad-Wegweisung finde ich hier in Deutschland sowieso nutzlos, wie ich auch schon mal beschrieben habe. Gute und sichere Wege gibt es bis heute nicht. DIe Stadt erzählt zwar gerne etwas von 180km Radwegen; das wäre beim aktuellen Straßennetz von 1450km zwar auch schon keine gute Leistung. Und wenn man weiß, dass davon lediglich 8km richtige Radwege (d.h. kein Mischverkehr mit Fußgängern) sind, wird es noch deutlicher, dass dieses Ziel in sehr weiter Ferne ist und bis 2030 bestimmt nicht mehr umgesetzt werden kann.

Und noch ein zweites Bild aus dem VEK2030 zum Thema Radverkehr. Nur zur Info: Die Qualität habe nicht ich so schlecht hinbekommen, das ist ein Screenshot aus dem Dokument. Vor zehn Jahren war das png-Format vielleicht noch nicht so verbreitet (und ich manchen Bereichen hat man vielleicht bis heute noch nix davon gehört).
Nach diese Grafik hätte man allerspätestens 2015 mal kurz überlegen und intervenieren müssen. Damals war der Radverkehrsanteil definitiv unter dem Minimalziel von 10%. Das ist er ja sogar heute noch. Ganz genau weiß das zwar niemand, weil er schon lange nicht mehr gemessen wurde, aber dass er nicht in dem Maße gestiegen ist, wie man sich das gewünscht hätte, ist allen klar.Raverkehrsanteil laut VEK

Und ich weiß, dass sogar in den Automobil-Giganten in und um Stuttgart nicht nur Auto-Fans arbeiten, sondern auch Radfahrer:innen. Nicht nur diese „Auch-Radfahrer“ (die sich in jeder Diskussion immer aufspielen und nur Quatsch einbringen), sondern richtige Alltagsradler. Ein Beispiel dafür ist Mahle, die seit Jahren jedesmal beim Stadtradeln mit einer beeindruckenden Mannschaft gewinnen. Daher bin ich mir sicher, dass auch in der Stadt Stuttgart der ein oder die andere Alltagsradfahrer:in sitzt und etwas von diesem VEK weiß. Und in meiner Welt sitzt diese Person dann nicht nur stumpf am Schreibtisch und wartet auf den Feierabend, sondern denkt auch mal mit und engagiert sich ein bisschen neben dem eigentlichen Aufgabengebiet. (Auch wenn ich das nach der beschriebenen Ansicht der Stadt über Engagement vielleicht nochmal hinterfragen müsste.)
Die Vorgesetzten sollten sowieso über diese demokratische Entscheidung bezüglich ihres Aufgabengebietes wissen.
Und jetzt stehen wir im Jahr 2020 und haben definitiv keine 12% Radverkehrsanteil, also das Mindestziel – oder auch Minimalziel – nicht erreicht. Mit sehendem Auge seit mindestens fünf Jahren auf dieses Versagen zugelaufen, ohne etwas zu machen. Vielleicht ist der politisch korrekte Begriff dafür nicht „Boykott“, sondern eher „Änderung der Prioritäten“. Dass man dieses Thema einfach „vergessen“ hat, kann ich mir nicht vorstellen, wie ich es eben noch ausgeführt habe. Im Endeffekt ist es auch egal, wie man es nennt. Es wurde nichts gemacht. Es wurde von Anfang an nicht genug gemacht, um das Minimalziel zu erreichen. Und als man festgestellt hat, dass man selbst das Minimalziel nicht erreichen wird, hat man keinerlei Änderung der offensichtlich falschen Strategie beschlossen. Für mich ist und bleibt das ein Boykott des Gemeinderatsbeschlusses 590/2010, einem demokratisch beschlossenen Grundsatzziel für die Stadt Stuttgart von ihren gewählten Vertretern.

Vielen Dank an alle, die mich über obigen Tweet informiert und die sich in die Diskussion auf twitter eingeschaltet haben. Ich hoffe, ich konnte damit erklären, dass ich nicht „im Krieg“ bin, sondern einfach nur einer von sehr vielen Stuttgarter:innen, die sich eine lebenswertere Stadt wünschen – wenn auch mit etwas mehr Engagement als andere.


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