Update weiter unten, sie ist gefunden! 🙂
In Stuttgart gibt es zwei Zählstellen, die die Fahrradfahrer:innen zählen.
Im letzten Jahr wurden an der Frequentierteren 990.866 gezählt.
Vor ein paar Wochen ist mir aufgefallen, dass dieses Jahr durchaus die in unserem Dezimalsystem magische Zahl von 1.000.000 geknackt werden könnte. Also habe ich immer mal wieder einen Blick auf die Seite mit den nicht-so-ganz-live-Daten geworfen, aber letzte Nacht selbst nach 2:00 keinen aktuellen Stand mehr gesehen.
Heute früh um 07:18 ging dann mein Telefon – bis ich das jedoch im Tiefschlaf soweit verstanden habe, dass ich rangehen konnte, war es natürlich schon zu spät. Eine Minute später, als ich halbwegs wach war, dann eine SMS: „Es fehlen noch 670, ich fahre jetzt los!“
Plötzlich hellwach überlegte ich mir noch schnell, was ich jetzt auf die Schnelle organisieren könnte. Ich packte meine Kamera ein, Banner vom Radentscheid und Zweirat, ADFC-Logos und den Rucksack-Überzieher mit der 1,5m Abstandskampagne der Stadt. Mit den nicht vollen Akkus des Lastenrades, der Musikanlage und der Kamera eilte ich runter und packte alles zusammen.
Um 7:38 war ich dann auf dem Rad unterwegs und kam einundzwanzig Minuten später an der Zählstelle an: auf dem Zähler stand 502. Glück gehabt, noch nicht zu spät!
Ich packte die Kamera aus, hängte die Banner, Logos und den Rucksack auf und wartete.
Tobias kam kurz darauf auch noch an und wir warteten eben zusammen. Die Spannung stieg und der Zähler kletterte immer näher an die heute relevante Zahl 670.
Das Bild ist übrigens tatsächlich von heute und dieser Radler war nicht der Einzige in kurzen Hosen! Dass es gerade noch nicht winterlich kalt ist, ist klar. Aber für kurze Hosen wäre es mir doch deutlich zu kalt.
Und ein Velomobil ist auch vorbei gefahren.
Teilweise kamen ganze Pulks von Radfahrenden an, hier und da drückte ich mal wieder ab; immer das gelbe „Wir glauben an das Fahrrad“-Banner vom Zweirat und das Radentscheid-Stuttgart-Banner im Hintergrund.
Gegen 8:30 schaltete ich auf der Anlage dann „We are the Champions“ ein und um 8:33 war es dann soweit: Der Zähler sprang auf 670!
Eine Dame mit einem silbernen Kettler-Alurad und grünen Schutzblechen hat den Zähler auf die Millionen gesetzt! Ohne genaueren Plan, was wir jetzt mit der Situation machen sollten kuckten wir uns bedröppelt an, beglückwünschten sie zu ihrer „Leistung“ und dann fuhr sie schon weiter.
Inzwischen gibt es auch noch einen „Videobeweis“ der einmillionsten Durchfahrt und wir müssen feststellen, dass es tatsächlich jemand anderes war. Zu zweit da zu stehen und mit anderen Radfahrer:innen und auch Fußgänger:innen zu reden und gleichzeitig irgendwie noch diesen historischen Moment einzufangen war etwas herausfordernd.
Unter dem Twitter-Account vom ADFC Stuttgart ist ein Foto aus dem Video veröffentlicht – und daraufhin hat sich sogar auch die Fahrerin gemeldet:
Natürlich hat es danach nicht aufgehört, der (vermutliche) Pendlerstrom riss nicht ab und es fuhren weiterhin Radfahrer:innen vorbei.
Natürlich ist dies ein schönes Zeichen, aber bei dieser Gelegenheit muss auch Kritik geäußert werden. Nicht nur, dass die Beschilderung an dieser Stelle etwas verwirrend ist. Das kennen wir Radfahrer:innen ja schon zu genüge, dass der Radverkehr nie so richtig ernst genommen wird.
Auch ist diese Strecke bereits seit Jahren ein schlechter Kompromiss. Man sieht ganz gut, dass es dort einfach viel zu eng ist. Überholen ist dort überhaupt nicht möglich, weil man in der Kurve etwas mehr Platz braucht und man auch schlecht sehen kann. Bei entgegenkommenden Radler:innen, vor allem bei Lastenrädern oder mit (Kinder-) Anhängern wird es dort schon sehr eng!
Auch die Zahl „eine Millionen“ könnte man etwas kritisch betrachten. Bereits im letzten Jahr hatte man vermutet, dass die Millionen bereits erreicht worden ist, jedoch die Zählstelle für einige Tage defekt war und überhaupt nichts zählte. (Leider finde ich diese Diskussion dazu nicht mehr.)
Da jetzt etwa 15.000 Fahrten pro Woche gezählt werden, wird es somit eine minimale Steigerung von vielleicht 2-4% der Radfahrenden dort geben.
Auch wenn man sich die detaillierten Zahlen dieser Zählstelle seit Beginn anschaut, macht es nicht den Eindruck, dass dort ein rasanter Anstieg der Durchfahrten bemerkbar ist. Die Stadt hätte gerne einen Radverkehrsanteil von 25%, also eine verdrei-/vervier-/verfünffachung des Wertes von 2012. Wenn ich jedoch stichprobenhaft den Wert von August 2012 (92.148) mit dem vom August 2019 (114.079) vergleiche, komme auf eine Steigerung von nur 23% in sieben Jahren.
Viele Leute würden ja gerne mit dem Rad fahren – aber sie brauchen dafür sichere und gute Angebote! Solange die Stadt immer mal wieder die Fahrradstraße als Umleitung einer zweispurigen Bundesstraße benutzt, sich fast ein Jahr mit einer 350m langen/kurzen und nicht besonders effektiven Fahrradstraße beschäftigt und in den letzten zwei Jahren gerade mal 2,5km neue Radstrecken (was auch immer das wieder sein soll?! Hier die Quelle) erstellt hat, werden nur sehr wenige der großen Gruppe der „Interessierten“ umsteigen. Die „Furchtlosen“ und „Gewohnheitsfahrer“ sind jetzt schon unterwegs – ganz egal, was die Stadt im Bezug auf den Radverkehr (nicht) macht. Diese Phantasiezahl der „180km Radwege“, die von der Stadt Stuttgart immer wieder genannt wird, wurden im Zuge des Radentscheids schon mal entzaubert. Bei einem Straßennetz von etwa 1.500km gibt es in Stuttgart lediglich acht (8!) Kilometer richtige Radwege!
Wir haben auch beim Beobachten des Zählers bemerkt, dass dort mitnichten jede Durchfahrt gezählt wird. Diese Beobachtung haben schon viele gemacht, wie man immer wieder lesen kann. Eines Tages könnte man sich vielleicht mal eine Stunde mit einer Kamera hinstellen und diese Vermutung mit Zahlen belegen.
Dass der weitere Verlauf in beide Richtungen von dieser Zählstelle verbesserungswürdig ist, weiß auch jede:r Radler:in. In Richtung Bad Cannstatt wird man nach einer weiteren Bettelampel direkt zwischen parkende und zweispurig fahrende Autos entlassen, vor denen man an der Stelle noch mit einer Betonwand geschützt wird; in der anderen Richtung landet man nach ziemlich unebener und kurviger Strecke im Park zwischen den Fußgänger:innen. Just heute auf der Rückfahrt stand 200m hinter der Zählstelle ein Lastenradfahrer und hat probiert Scherben von der Radspur zu entfernen.
Zuletzt fragt man sich als IT-affiner Mensch, wieso die Daten der Zählstelle eigentlich nicht als Open Data, also als offene Daten vorliegen, mit denen jede:r rumspielen kann, Apps entwickeln, Grafiken und Verläufe erstellen kann, und so weiter. Wenn die Daten erst mal frei verfügbar wären, werden sie bestimmt auch sinnvoll verwendet.
Kurz bevor ich wieder zuhause war, war mein Lastenrad-Akku dann leer und ich musste mit dem beladenen Rad nun nicht nur ohne Unterstützung durch die Stadt, sondern auch noch völlig ohne Motorunterstützung den letzten Kilometer leicht bergauf fahren.
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