Rad nimmt Rücksicht

Der eine oder die andere Stuttgarter:in kann sich vielleicht noch daran erinnern: Am 4. April 2022 hat die Stadtverwaltung eine Kampagne „Rad nimmt Rücksicht“ gestartet. Ich habe an dem Tag gerade den neu lackierten Reiserad-Rahmen aus Fellbach abgeholt und bin dabei auf Teilen der sog. Hauptradroute gefahren.
Auf vielen Litfaßsäulen, Anzeige- und sonstigen Werbetafeln, eigentlich überall, wo ein Plakat angebracht werden konnte, war es. In Summe wurden mit ca. 13.000€ an über 300 Stellen diese Plakate angebracht. Zusätzlich noch an 50 Stellen dieser Spruch auf den Boden gesprüht. Selbst auf der eigentlich einzigen Fahrradstraße in Stuttgart, also da, wo auf den Radverkehr eigentlich besonders geachtet werden sollte wurde durch diesen Schriftzug alles auf den Kopf gestellt.

Die Begründung für diese Witz-Kampagne war für die Stadt, dass in den 500 Tagen vom 15.11.2020 bis zum 31.3.2022 ganze 156 angebliche Beschwerden über den Radverkehr bei der Stadt eingegangen sind, 64 von Fußgänger:innen. (Quelle der ganzen Zahlen)

Um diese Zahl mal in Relation zu setzen: Alleine im Jahr 2021 hat die Stadt Stuttgart 463.910 Bußgeld-Verfahren im „fließenden Verkehr“ (sprich: Blitzer) gestartet und sogar 529.100 Vergehen im „ruhenden Verkehr“ (also: Falschparken) festgestellt. (Quelle dazu)
In Summe also fast eine Millionen Ordnungswidrigkeiten beim Kraftverkehr, 2.720 pro Kalendertag. Je nach Rechnung kommt man dabei in jeder Stunde, in der das Ordnungsamt angeblich arbeitet, auf mehr als diese 156 Beschwerden. In jeder einzelnen Stunde – das ganze Jahr!

Dazu kommt die Unfallstatistik der Polizei Stuttgart. Für 2021 gab es im Stadtgebiet 20.074 Verkehrsunfälle, also etwa 56 Unfälle, jeden einzelnen Tag. Dabei wurden fünf Menschen getötet und 1.879 (schwer)verletzt.
Dabei ist noch eine Corona-Delle dabei, denn 2019 waren es noch 25.743 (70 pro Tag!) Unfälle, also über 25% mehr (und das wird vermutlich auch über kurz oder lang wieder so kommen, denn von der Stadt werden keine effektiven Maßnahmen für Verkehrssicherheit umgesetzt).
A propos „Polizei“: denen fällt natürlich auch nichts besseres ein, als zur „Rad nimmt Rücksicht“ Kampagne mit ihrem Auto auf dem Marienplatz, mitten auf der Hauptradroute 1 zu parken. Knoflacher nennt sowas „Virus Auto“ und mit gesundem Menschenverstand ist das alles wirklich nicht mehr zu begreifen.

Bei all den Zahlen und mit gesundem Menschenverstand ist es überaus verwunderlich, wie man bei der Stadtverwaltung auf die Schnapsidee kam, eine Kampagne durchzuführen, die eine angebliche „Rücksichtslosigkeit“ beim Radverkehr thematisieren soll. Und diese dann sogar auch noch durchzuführen?! Wie bitte geht das? Es ist wirklich unerklärlich.

Mich hat jedes dieser Plakate / Motive so angesprochen: „Du Radfahrer nimmst nie Rücksicht – mach das endlich mal!“
Rücksicht nehme ich (wie die meisten anderen auf zwei Rädern) sowieso, nicht nur aus Selbstschutz. Niemand hat Lust, erst recht nicht beim zu schnellen Fahren, zu stürzen und sich dabei selbst zu verletzen. Als eines der bekannteren Gesichter des Radentscheids, der erst kurz vorher zuende ging, war es mir sowieso wichtig, als Radfahrer nicht negativ aufzufallen.
Diese Kampagne hat jedoch alles geändert. Nicht bzgl. der Rücksicht, ich fahre immer noch nicht durch Fußgängerzonen und auch nicht durch die Stuttgarter Parks (sondern auf den parallelen B14/B27 und muss mich dabei mit hupenden, drängelnden und schneidenden Autofahrer:innen und Polizist:innen rumschlagen, die während ihrer Ausbildung beim Thema StVO offenbar geschwänzt haben). Aber rote Ampeln bei freien Kreuzungen nehme ich inzwischen wirklich nicht mehr ernst. Wenn sowieso schon alle Bürger:innen der Stadt mit dieser Schwachsinns-Kampagne darüber aufgeklärt wurden, dass „Radfahrer keine Rücksicht nehmen“, wieso soll ich dann den steinigen (und unmöglichen) Weg gehen, sie vom Gegenteil zu überzeugen?

Als ich dann zwei Tage später wieder die knapp 7km ins Büro gependelt bin, sind mir diese zehn Falschparker aufgefallen.

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08:55 Beide Gehwege komplett blockiert.

08:56 Hier fällt auf, dass in dem kleinen Blumenbeet direkt vor der Autotür ein Schild mit „Bitte nicht auf dem Gehweg parken“ steht. Das bringt ganz offensichtlich überhaupt gar nichts.

08:56 (ja, das war direkt hinter mir)

08:59 Den finde ich ja besonders gefährlich, weil er nicht nur den kompletten Gehweg blockiert, sondern mit seiner fast nicht zu erkennenden, überstehenden Ladung in die verengte Straße ragt!

09:04 Hier ist der Gehweg schon längst nicht mehr gesperrt gewesen. Aber zur Arbeitsverweigerung des lokalen Ordnungsamtes gehört nicht nur, dass jegliches Falschparken hier geduldet wird, sondern auch, dass alle möglichen Beschilderungen im öffentlichen Raum rumstehen und eher nur zufällig mal wieder entfernt werden.

Das konnte man auch an der Birkenwaldstraße sehen, als hier mal wegen einer Baustelle eine Ampel stand und die Haltelinien noch wochenlang nach dieser Baustelle noch quer über die Straße gingen.
Nebenbei: wer die StVO so gut kennt und weiß, dass der weiße Volvo in dem Bild auch ordnungswidrig steht, hat vermutlich einen Wissensvorsprung gegenüber den meisten (wenn nicht allen) Mitarbeiter:innen des Stuttgarter Ordnungsamtes (auch wenn das nur ein Bußgeld von 10€ bedeutet).

All diese Fotos sind tatsächlich an einem Tag entstanden, dem 6.4.2022, innerhalb der 14 Minuten von 08:50:21 und 09:04:45. Die Strecke war die Lenzhalde, Schottstraße, Helfferichstraße, Birkenwaldstraße, Borsigstraße. (Auf der Stresemannstraße, Maybachstraße und Siemensstraße) habe ich nichts fotografiert.
Und das waren nur die drastischen Fälle. „Normal“ falschparkende Autos im Kreuzungsbereich oder im absoluten Halteverbot hab ich gar nicht aufgenommen, sonst würde ich ja gar nicht mehr voran kommen. Die meisten dieser Autos/Lieferwagen müsste man mit 70€ + 1 Punkt sanktionieren, auch ein Abschleppen wäre laut den „10 größten Parksünden„, die die Stadt Stuttgart in einer Alibi-Aktion selbst mal aufgestellt hat – aber leider nicht verfolgt, nötig.

Und ich habe im September 2023 noch solche Bodenmarkierungen gesehen, die nicht so aussahen, als ob sie schon seit anderthalb Jahren dort waren. (Auch wenn die Mastodon-Integration hier offenbar noch bisschen scheiße funktioniert.)


Kommentare

Eine Antwort zu „Rad nimmt Rücksicht“

  1. Avatar von Alexander
    Alexander

    Ich teile Deine Resignation. Mein Unrechtsbewusstsein bei eigenen kleinen Verstößen hat sich mittlerweile an die Selbstverständlichkeit angepasst, mit der Autofahrende ihr Blech im Halteverbot abstellen. Diese Kampagne hat dazu beigetragen.

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